Der Ausblick für Europa und offene Fragen
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In einem Interview mit Frederik Ducrozet, Chefvolkswirt bei Pictet Wealth Management, und Tamim Bayoumi, stellvertretender Direktor der Abteilung Strategie, Politik und Prüfung beim Internationalen Währungsfonds und Autor eines ausgezeichneten neuen Buchs mit dem Titel Unfinished Business: The Unexplored Causes of the Financial Crisis and the Lessons Yet to be Learned (Offene Fragen: Die unergründeten Ursachen der Finanzkrise und die noch zu gewinnenden Erkenntnisse daraus) stellte WisdomTree den Ausblick für die europäischen Aktienmärkte und die Wirtschaft in den Mittelpunkt. Abschließend warfen wir einen Blick auf die Finanzkrise in Europa und die aktuelle Lage des europäischen Bankensystems sowie die des Euro-Raums und der Währungsunion selbst.
Ducrozet sieht europäische Nachzügler positiv
Ducrozet und seine Firma Pictet Wealth sehen europäische Aktien optimistisch und möchten sich verstärkt in Richtung zyklischer Teile des europäischen Markts, u. a. zyklische Sektoren, Banken und Small-Cap-Aktien, positionieren.
Ducrozet sieht keine Anzeichen für einen Abschwung in der europäischen Wirtschaft und bezeichnet 2018 als das Jahr der Nachzügler – Länder wie Frankreich und Italien könnten Deutschland also in Bezug auf das Wirtschaftswachstum überflügeln.
Ein Risiko im Jahr 2018 ist die italienische Politik. Aus Sicht des Wirtschaftswachstums hinkt Italien hinterher, und am 4. März finden Wahlen statt. Ducrozet glaubt nicht, dass die populistische und eher Euro-skeptische Fünf-Sterne-Bewegung die Wahlen gewinnen und eine Regierung bilden wird, es handelt sich dabei 2018 jedoch um ein Risiko für den gesamten Euro-Raum.
Ducrozet erwartet eine erstarkende europäische Wirtschaft, die resistenter gegenüber politischen Schocks ist. Nach den Trump-Wahlen und Brexit glaubt Ducrozet außerdem, dass es für alle diese politischen Bewegungen in Europa schwieriger werden wird, einen Ausstieg aus dem Euro-Raum zu fordern. Insbesondere in Italien kann er sich sogar vorstellen, dass die rechtsextremen Parteien ihre Vorstellung von einem Verlassen des Euro-Raums zurücknehmen werden.
Die Politik nahm 2017 starken Einfluss auf den Euro – wird dies 2018 bei den Zinsen der Fall sein?
Ducrozet zufolge war die Stärke des Euro im Jahr 2017 voll und ganz darauf zurückzuführen, dass die Wahlen in Frankreich sich nicht zu einem Worst-Case-Szenario entwickelt haben. Dadurch wurden auch andere Faktoren wie die Politik der Fed und die Besorgnis über Kapitalabflüsse aus China dominiert. Eine unterschiedliche Geldpolitik und die Zinspolitik haben zu einem gegenüber dem Euro stärkeren US-Dollar geführt. Für die Europäische Zentralbank (EZB) würde ein steigender Euro, insbesondere ein Wert von über 1,25, für Gegenwind bei der Inflationsentwicklung sorgen und EZB-Präsident Mario Draghi mehr zu denken geben, ob eine potenzielle Drosselung der quantitativen Lockerung (QE) angebracht ist. Zuwächse im Euro-Raum erscheinen deshalb 2018 eher zurückhaltend oder sogar gedeckelt.
Auf Reden müssen Taten folgen
Ducrozet erwartet keine Erhöhung der negativen Zinsen der EZB für 2018. Ihm zufolge wird sich die künftige Handlungsempfehlung bis zum Sommer ändern, wenn sich Draghi auf einen kämpferischeren, positiveren Ton verlegen und die Beendigung der quantitativen Lockerung zum Ende 2018 mit einer drei- bis sechsmonatigen stufenweisen Reduzierung auf den Tisch bringen könnte. Außerdem könnte er Zinserhöhungen für Mitte 2019 andeuten. Die Zinsen könnten 2019 aber trotzdem im negativen Bereich bleiben, weshalb über einen längeren Zeitraum wahrscheinlich ein niedriges und negatives Zinsumfeld vorherrschen wird.
Offene Fragen mit Tamim Bayoumi
Im weiteren Verlauf des Interviews widmeten wir uns Bayoumis Buch Unfinished Business, einer Untersuchung der Finanzkrise. Bayoumi schrieb das Buch, da er die Finanzkrise in Europa und die in den USA als parasitisch miteinander verflochten betrachtete.
Wie wurde aus einer US-Immobilienkrise eine europäische Wirtschaftskrise?
Laut Bayoumi liegt ein Großteil der Ursache für die Krise in den Bestimmungen von 1996, durch die die europäischen Kapitalpuffer auf der Grundlage interner Risikomodelle von Banken bestimmt wurden. Dies gilt immer noch, wenn Banken ihre eigenen Modelle anwenden, um das Risiko ihrer Bilanzen und die Höhe des zu haltenden Kapitals zu bestimmen. Dies trug zur Senkung der Kapitalkosten der Banken bei und gab US-Banken Anreize, risikoreichere Darlehen an US-Investmentbanken abzustoßen. Diese wiederum verkauften die Darlehen an europäische Banken, die anhand ihrer internen Risikomodelle sogar auf noch geringere Kapitalkosten kamen.
US-Geschäftsbanken, für die strengere Hebelverhältnisse galten, überstanden die Krise sehr viel besser als Investmentbanken, die weniger reguliert waren und einen geringeren Kapitalbedarf aufwiesen. Europäische Banken verwenden sowohl interne Risikomodelle als auch sehr viel höhere Hebel. Mit Basel III werden sich einige dieser internen Risikomodelle langsam verändern, und es werden strengere Hebelanforderungen eingeführt.
Bayoumi sieht Herausforderungen bei der Planung des Euro-Raums
Bayoumis Buch beschreibt die Geschichte der Währungsunion und einige der Herausforderungen, die sich bei ihrer Bildung ergaben, insbesondere die unterschiedlichen Sichtweisen auf die Rolle des Euro aus Deutschland und Frankreich. Frankreich sah die Einheitswährung als notwendig an, um einen stärker integrierten europäischen Block zu schaffen, und war der Meinung, dass die Union in Schwierigkeiten steckende Länder unterstützen sollte. Deutschland hingegen wollte vor der Einführung einer Einheitswährung eine stärkere wirtschaftliche Integration und keine Unterstützung für Länder, die in Schwierigkeiten gerieten. Was wir aufgrund des Falls der Berliner Mauer bekamen, war eine französische frühe Währungsunion mit einer deutschen Klausel gegen Rettungspakete, was Bayoumi als das Schlechteste aus beiden Welten betrachtet.
Laut Bayoumi lässt sich genau dieselbe Debatte heute erneut verfolgen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron möchte einen Finanzminister für den Euro-Raum, der an in Schwierigkeiten geratene Länder Kredite vergeben kann. Deutschland möchte einen Finanzminister für den Euro-Raum, der die Schulden von in Schwierigkeiten steckenden Ländern umstrukturieren kann. Bayoumi sieht dies als dieselbe deutsch-französische Debatte an, die sich bereits vor 50 Jahren abspielte.
Werden Länder zum Verlassen des Euro-Raums gezwungen?
Bayoumi hält es für unwahrscheinlich, dass ein Land während einer Krise zum Verlassen des Euro-Raums gezwungen werden wird. Es wir eher so sein, dass man nach langen konjunkturschwachen Perioden in einigen Ländern entscheiden wird, den Kurs nach längerem schleppenden Wachstum zu ändern. Es gab schon frühere Währungsunionen in Europa, die aufgrund genau dieses Problems zerfielen. Bayoumis Buch und Gespräch lieferte eine interessante Sichtweise auf die historischen Ereignisse, die zu der Krise und der aktuellen Situation geführt haben.