Von einer Vormachtstellung Chinas im Bereich künstliche Intelligenz zu sprechen, könnte überzogen sein
In der aktuellen geopolitischen Landschaft kann man sich der Berichterstattung zum Handelsstreit zwischen China und den USA kaum entziehen. Am deutlichsten treten die Auswirkungen dieser Spannungen im globalen Handel zutage, wo die Verhandlungen zwischen den beiden Ländern nebst gewisser „politischer Theatralik“ andauern. Bislang ist noch nicht abzusehen, wie diese Verhandlungen ausgehen werden. Bis dahin dürften sie allerdings zweifelsohne für zahlreiche weitere Schlagzeilen sorgen.
Daten sind das neue Öl1 – und China verfügt über UNMENGEN an Daten
Bei der Betrachtung des wachsenden Gebiets der künstlichen Intelligenz fällt der erste Blick in der Regel auf Daten – der „Kraftstoff“ für viele dieser maschinellen Lernprozesse und Algorithmen. Vereinfacht ausgedrückt ermöglicht es eine größere Datenmenge, diese unterschiedlichen Prozesse zu verfeinern, wodurch diese wiederum ihre spezifischen Aufgaben mit höherer Effizienz und Genauigkeit ausführen können.
An diesem Punkt fällt der Blick in der Regel auf China und die schiere Einwohnerzahl – über 1,4 Milliarden Menschen2 – des Landes. Selbst wenn nur ein Teil der Bevölkerung signifikante Datenmengen generiert, kann deren Volumen sehr schnell sehr stark anwachsen. Darüber hinaus unterscheidet sich Chinas Regierungsstruktur von der traditionellen „westlichen Demokratie“. Zahlreiche Einwohner und politische Führungskräfte westlicher Demokratien sind nach wie vor der Auffassung, dass die chinesische Regierung in Bezug auf Datenschutzbedenken einen weniger sensiblen Umgang an den Tag legt. Dies ist ein weiterer Faktor, der China dabei helfen könnte, große Mengen an Daten zu generieren und zu sammeln.
Unter dem Strich stellt das Reich der Mitte somit zweifelsohne eine treibende Kraft in Bezug auf künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen dar und ist auf diesen Gebieten möglicherweise allen anderen Ländern voraus, einschließlich der USA.
Nur gestaltet sich die Lage vielleicht doch nicht ganz so einfach.
Viele der führenden KI-Unternehmen in China befinden sich in privater Hand
Im Hinblick auf Technologien zur Gesichtserkennung haben chinesische Unternehmen beachtliche Fortschritte erzielt. Allerdings weisen die vier führenden chinesischen Unternehmen in diesem Segment des maschinellen Lernens (Sensetime, Cloudwalk, Face++ und Yitu) keine Börsennotierung auf3, was den Zugang zu diesen Firmen als Anlage erschwert.
Dies stellt unseres Erachtens einen interessanten Aspekt dar, und bei eingehenderer Untersuchung wurde deutlich, warum viele chinesische KI-Unternehmen nicht den Weg an die Börse antreten.
- Die Unternehmen erhalten regelmäßige Kapitalspritzen: Für größere Unternehmen wie Baidu, Tencent oder Alibaba ist es am chinesischen Markt einfach, Kapital in kleinere, aufstrebende KI-Firmen anzulegen. Die kleineren Unternehmen profitieren davon, da hierdurch ihr Bedarf an Betriebskapital gedeckt wird. Im Gegenzug erhalten die größeren Unternehmen eine Aktienbeteiligung an den kleineren Firmen. Dadurch fällt einer der Haupttreiber für den Gang an die Börse – d.h. Betriebskapital aufzunehmen – weg. Sobald Unternehmen Aktienbeteiligungen aufweisen (z.B. wenn sich ein kleineres Unternehmen zu einem gewissen Prozentsatz im Besitz eines größeren Unternehmens befindet), wird es aufgrund des derzeit geltenden Gesetzes in China überdies schwierig für das kleine Unternehmen, einen Börsengang durchzuführen, bevor diese Beteiligung aufgelöst wird.
- Die Unternehmen müssen ihre Rentabilität unter Beweis stellen: Die chinesische Wertpapieraufsichtsbehörde verlangt aktuell von Unternehmen, die sich um eine Börsennotierung bemühen, eine rentable Geschäftsentwicklung über einige Quartale hinweg nachzuweisen, bevor die Zulassung erteilt wird. Dies kann eine Herausforderung für jüngere KI-Unternehmen darstellen, da ein großer Teil ihrer Gewinne in Form von Forschungs- und Entwicklungskosten sowie Investitionsausgaben in das Unternehmen zurückfließt.
Das Beispiel selbstfahrender Autos
Einer der KI-Bereiche, der für enormes Aufsehen sorgt, betrifft selbstfahrende Autos. Um Fortschritte auf diesem Gebiet zu ermöglichen, müssen Straßen bis auf den Zentimeter genau kartografiert werden. Es reicht für das Auto nicht aus, zu wissen, auf welcher Straße es sich befindet – es muss wissen, wo genau es sich auf dieser Straße im Vergleich zu allen anderen Fahrzeugen befindet, gleich ob Fahrbahnmarkierungen vorhanden oder unkenntlich sind. Aus Gründen, die unserer Vermutung nach die nationale Sicherheit betreffen, hinkt China bei der Entwicklung dieser Karten den USA hinterher, und aktuell verfügen nur 14 Unternehmen über eine Zulassung zur Erstellung dieser Karten4. Diese Lizenzen werden ausschließlich chinesischen Firmen erteilt – ausländische Unternehmen, die sich an der Kartierung beteiligen wollen, benötigen eine chinesische Partnergesellschaft. Baidu stellt das fortschrittlichste Unternehmen dar, das im Bereich selbstfahrende Autos tätig und zudem an der Börse notiert ist. Zweifelsohne ist in Zukunft mit Fortschritten zu rechnen. Die Annahme, dass China auf diesem Gebiet allen anderen Ländern weit voraus ist, sollte wie aus diesem Beispiel ersichtlich, jedoch mit Bedacht betrachtet werden.
China wird künftig Fortschritte erzielen
Unseres Erachtens wird China in Zukunft tatsächlich eine starke Rolle auf dem Gebiet der KI spielen, und wir behalten diesen Bereich des Marktes genau im Auge. Bis auf Weiteres könnten sich etwaige Aussagen über China als „weltweit führend“ in Bezug auf KI jedoch als voreilig erweisen.
Quelle
1 Zitat, das dem britischen Mathematiker und Erfinder der Clubcard von Tesco (2006) Clive Humby zugeschrieben wird
2 Auf Grundlage von Schätzungen der Vereinten Nationen. Stand: Februar 2019
3 Bloomberg. Stand: Februar 2019
4 Yan Zhang et al. „Hyperdrive: Wanted in China: Detailed Maps for 30 Million Self-Driving Cars“. Bloomberg. 23. August 2018
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