WisdomTree-Ausblick Aktien - Die drei dimensionen der portfolioresilienz
Im Jahr 2020 wurde das Wort „beispiellos“ in noch nie dagewesener, ja beispielloser Weise verwendet. Die Investoren setzten sich mit den menschlichen, wirtschaftlichen und finanziellen Kosten der Pandemie auseinander. Für Prognosen einer wirtschaftlichen Erholung wurden unterschiedlichste Szenarien skizziert. Unabhängig davon, welches dieser Szenarien der realen Entwicklung am nächsten kam, hat sich die letztlich einsetzende Konjunkturerholung für Aktienanleger, die in der Lage waren, während der volatilen Phase im März investiert zu bleiben, tatsächlich ausgezahlt.
Die breite Rallye an den Aktienmärkten, die im Jahr 2021 neue Höchststände erreicht hat, wurde von drei Hauptfaktoren angetrieben: Erstens wurde die außerordentlich (um nicht noch einmal das Wort „beispiellos“ zu verwenden) lockere Geldpolitik fortgeführt. Zweitens wurde der seit November letzten Jahres herrschende Impfstoffoptimismus von einem Nachfragestau abgelöst, dessen Abbau in diesem Jahr zu hohen Unternehmensgewinnen beiträgt. Drittens haben die von den Regierungen eingeführten fiskalischen Anreize Risikoanlagen zusätzlichen Auftrieb verliehen.
Dass viele Aktienmärkte in den Industrieländern nach wie vor neue Höchststände erreichen, wirft die Frage auf, welche übergreifenden Themen die Anleger in Betracht ziehen sollten, um die Resilienz ihrer Aktienportfolios in den kommenden Monaten zu steigern.
„Taper Tantrum“ am Horizont?
Die Erzählung vom Frosch, der langsam bei lebendigem Leib gekocht wird, ist nur allzu bekannt: Wenn ein Frosch plötzlich in kochendes Wasser gesetzt wird, wird er sofort versuchen, sich mit einem Sprung daraus zu retten. Wird er stattdessen in lauwarmes Wasser gesetzt, dessen Temperatur sich nur langsam dem Siedepunkt nähert, nimmt er die drohende Gefahr möglicherweise nicht wahr und stirbt im kochenden Wasser.
Wie lässt sich diese Analogie auf die aktuelle Lage übertragen? Bei einer unvermittelten Einführung der lockeren Geldpolitik als Reaktion auf das Pandemiegeschehen wäre die US-Notenbank Fed vielleicht eher geneigt gewesen, ihre Politik zu „normalisieren“, als dies derzeit der Fall zu sein scheint. Da diese Form der Geldpolitik aber bereits seit der globalen Finanzkrise weitgehend als „Standardlösung“ akzeptiert ist, scheint die Fed in einer eigentlich unhaltbaren Situation weniger beunruhigt zu sein.
In den USA, also einer Volkswirtschaft, die gerade wieder auf die Beine gekommen ist, sind die langfristigen Realrenditen derzeit negativ. Ab einem gewissen Zeitpunkt muss die lockere Geldpolitik aber wieder auf das Vorkrisenniveau zurückgeführt werden. Doch je weiter die Fed auf diesem Weg der Straffung vorangeht, desto höher ist das Risiko des sogenannten „taper tantrum“, also einer heftigen Marktreaktion. Zu dieser Einschätzung kommen wir aufgrund der Nachbeben der Marktvolatilität im März 2020 – insbesondere, wenn die Märkte davon ausgehen, dass die Fed auf eine restriktivere Linie umschwenkt.
Aktienanleger können sich besser gegen solche Schwankungen wappnen, wenn sie sich für den Faktor Qualität als Kernbestandteil ihres Portfolios entscheiden. Die Qualitätsorientierung bietet eine Balance zwischen dem Schutz vor Abwärtsrisiken und der Partizipation an Aufwärtspotenzialen und hat daher unabhängig vom jeweiligen Szenario einen positiven Einfluss, sodass sie ein Market-Cap-Engagement im Kernportfolio ergänzen oder ersetzen kann.
Regionale Momentaufnahmen – „Winner takes it all“
Die globalen Aktienmärkte verzeichneten im Jahr 2021 starke Zuwächse, angeführt von den USA und Europa, die China und den asiatisch-pazifischen Raum hinter sich ließen. Indien und Japan haben zur Jahresmitte eine starke Trendwende vollzogen, denn die beiden Volkswirtschaften hatten zu diesem Zeitpunkt den damaligen Höhepunkt der Verbreitung der Coronavirus-Deltavariante überwunden. Für Europa, Japan und die Schwellenländer bleiben wir bei unserer optimistischen Einschätzung.
In der Eurozone scheint die Konjunktur wieder sehr rund zu laufen. Im 2. Quartal ist hier das Bruttoinlandsprodukt (BIP) gegenüber dem Vorquartal um 2 % gestiegen und hat damit die USA und China übertroffen. Während sich das Wachstum auf den globalen Märkten im nächsten Jahr abschwächen dürfte, ist das Tempo der Verlangsamung in Europa im Vergleich zur übrigen Welt wesentlich geringer, da sich Europa vor der Pandemie in einem sehr frühen Stadium der Erholung befunden hatte. Das BIP der Eurozone liegt noch immer 3 % unter seinem Höchststand vor der Pandemie, während das BIP in den USA im 2. Quartal um 0,8 % darüber lag.
Die durch die Wiederbelebung der Wirtschaft geförderte Verbrauchernachfrage trug dazu bei, überschüssige Ersparnisse, die während der Pandemie aufgelaufen waren, freizusetzen. Auf der Produktionsseite ging zunächst der Dienstleistungssektor voran, da das verarbeitende Gewerbe nach wie vor bei zahlreichen Produktionsfaktoren mit Angebotsengpässen zu kämpfen hat. Lieferverzögerungen treiben die Inputkosten der Hersteller in die Höhe, was zu einem Rekordanstieg der durchschnittlichen Verkaufspreise für Waren und Dienstleistungen führt. Folglich rechnen wir für die zweite Jahreshälfte mit einer anziehenden Inflation, die dann erst im Laufe des Jahres 2022 wieder zurückgehen dürfte. Die lockere Geldpolitik dürfte zunächst fortgeführt werden. Wir gehen davon aus, dass sich das Tempo der Nettoanleihekäufe im Rahmen des Pandemie-Notfallprogramms (PEPP) verlangsamen und schließlich im März 2022 auslaufen wird – unter der Voraussetzung, dass die Coronapandemie effektiv eingedämmt wird.
Der EU-Wiederaufbaufonds (RRF) sollte auch die Umsetzung von Wirtschaftsreformen in den Mitgliedstaaten ermöglichen. Betrachtet man allein die Zuschüsse, so deckt der RRF fast 20 % des deutschen Konjunkturprogramms ab. In Italien, Frankreich und Spanien beläuft sich dieser Anteil auf 30 %, 39 % bzw. 50 %. In Deutschland erzielen die eher linksgerichteten Grünen im Vorfeld der Bundestagswahl im September gute Umfragewerte. Wahrscheinlichstes Ergebnis dürfte eine Koalition zwischen den Grünen und der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) sein, in der die Grünen vermutlich auf eine expansivere Fiskalpolitik drängen werden. Der Blick auf die Geschäftszahlen der Unternehmen offenbart, dass die europäischen Aktienmärkte von einer der stärksten Aufwärtskorrekturen der Gewinnprognosen profitieren. Angesichts der in Europa im 2. Quartal auf Rekordniveau gekletterten Unternehmensergebnisse haben die angekündigten Aktienrückkaufprogramme ein Vierjahreshoch erreicht und könnten den europäischen Aktien weiteren Rückenwind verleihen.
Japanische Aktien sind gut positioniert, um von der Konjunkturerholung in den Industriestaaten zu profitieren, da die Unternehmen des Large-Cap-Segments nahezu 56 %1 ihres Umsatzes im Ausland generieren. Hier ragen die USA und Europa als bedeutendste Märkte heraus. Das dynamische Pandemiegeschehen war ein für die Underperformance der japanischen Aktienmärkte gegenüber den globalen Märkten entscheidender Faktor. Eine weitere Quelle der Unsicherheit, die nur für Japan gilt, ergibt sich aus der dortigen politischen Gemengelage. Die schwindende Popularität von Premierminister Yoshihide Suga führte in Verbindung mit seiner Unfähigkeit, die Coronapandemie einzudämmen, im September zu seinem Rücktritt. Der Zeitplan für die Präsidentschaftswahlen der Liberaldemokratischen Partei (LDP) dürfte unverändert bleiben. Unabhängig vom Wahlausgang dürfte der aktuell lockere makroökonomische Ansatz jedenfalls kurzfristig beibehalten werden. Im Vorfeld der Unterhauswahlen besteht die Möglichkeit weiterer fiskalischer Anreize, was den japanischen Aktienmärkten zusätzlichen Rückenwind verleihen könnte. Die japanischen Unternehmen vermeldeten zum fünften Mal in Folge bessere Quartalsergebnisse, wobei der Gesamtnettogewinn die Konsenserwartungen um 30,6 %2 gegenüber dem Vorquartal übertraf. Bei den Aufwärtskorrekturen der Gewinnprognosen liegt Japan in der Rangliste der wichtigen Regionen nach wie vor auf dem dritten Platz. Unseres Erachtens sind die langfristigen Aussichten für den japanischen Aktienmarkt angesichts der attraktiven Bewertungskennzahlen und der anhaltenden strukturellen Verbesserung der Unternehmensführung sowie der Kapitalrenditen weiterhin günstig.
Die Coronapandemie hat zu einer Zweiteilung der Performance zwischen den Schwellenländern und den Industriestaaten geführt, was in erster Linie auf den langsameren Impffortschritt in ersteren zurückzuführen ist. Allerdings steigt dort die Durchimpfungsquote, und bis zum Jahresende dürfte der Anteil (Median) der vollständig Geimpften von 29,8 % auf 71 % steigen3. Sollte sich dies bewahrheiten, würden sich die Schwellenländer einer Herdenimmunität annähern. Der starke US-Dollar und die Befürchtung, dass die Fed ihre Anleihekäufe zurückfährt, belasten die Stimmung am Markt. Zwar rechnen wir mit dem Beginn der Drosselung der Ankäufe bereits im Dezember 2021, doch erscheint eine erneute, mit dem Jahr 2013 vergleichbare Schockreaktion der Märkte („taper tantrum“) unwahrscheinlich, denn die Volkswirtschaften der Schwellenländer sind aktuell überwiegend in einer besseren Verfassung, was sich auch an ihren Leistungsbilanzen ablesen lässt.
Quellen: Haver, CEIC, nationale Statistikbehörden, WisdomTree (Stand: 31. August 2021). BIP = Bruttoinlandsprodukt. 2021S = Schätzung 2021.
Groß angelegte herkömmliche und erneuerbare Energieinfrastrukturprojekte dürften die Investitionsvolumina in den Industrieländern steigen lassen und folglich die Rohstoffnachfrage ankurbeln, wovon wiederum die Unternehmen in den Schwellenländern aufgrund ihrer Position in den globalen Lieferketten profitieren dürften. Schwellenländeraktien sind mittlerweile günstiger bewertet, denn das Kurs/Gewinn-Verhältnis (KGV) auf 12-Monats-Sicht von MSCI liegt aktuell bei 12,944. Schwellenländerwerte werden mit einem deutlichen Abschlag gegenüber Titeln der Industrieländer gehandelt. Dies gilt sowohl für das erwartete Kurs-Gewinn-Verhältnis als auch für das historische Kurs-Buchwert-Verhältnis. Im Vergleich zum MSCI EM erscheint das Bewertungsniveau der Immobilien-, Energie- und Finanzsektoren gegenüber der langfristigen historischen Bewertungsverteilung attraktiv, während die Bereiche Gesundheitswesen, zyklische Konsumgüter und Kommunikationsdienste überbewertet erscheinen.
Wirtschaft wieder auf (nachhaltigem) Wachstumskurs
Zu Beginn dieses Jahres war „Sektorrotation“ eines der großen Schlagworte. Und dies zu Recht, denn Substanzwerte überholten Wachstumstitel. Energieaktien profitierten von den steigenden Ölpreisen, während steigende Renditen Finanzwerten Auftrieb gaben. In unserem Beitrag Navigating the twists and turns in equities vertraten wir die Ansicht, dass diese Entwicklung eher als „Oszillation“ denn als einmalige Rotation einzustufen sei. Zudem stellten wir die These auf, dass Wachstums- und Substanzwerte in diesem Jahr nicht nur nebeneinander bestehen, sondern sich gegenseitig ergänzen könnten.
Quellen: WisdomTree, Bloomberg. Daten Stand 9. September 2021. Für die Darstellung der Entwicklung von Substanz- und Wachstumswerten wurden die MSCI World Net Total Return Indices in USD herangezogen.
Wertentwicklungen in der Vergangenheit lassen keine zuverlässigen Rückschlüsse auf künftige Ergebnisse zu. Zudem können Anlagen einem Wertverlust unterliegen.
Nehmen wir zum Beispiel an, der jährliche Absatz von Elektro-Pkw steigt von 3 Mio. im Jahr 2020 auf 66 Mio. im Jahr 2040. In diesem Fall sind erhebliche Investitionen in die Wertschöpfungskette für Batterielösungen sowie in das gesamte Ökosystem rund um die Technologie erforderlich, etwa in die Ladeinfrastruktur und das Recycling. Dieses Thema steht im Einklang mit der Energiewende, einem Megatrend, der sich in den kommenden Jahrzehnten weiterentwickeln, sich aber bereits in den kommenden Monaten noch einmal deutlich beschleunigen dürfte.
Ein weiterer durch die Pandemie angekurbelter Trend ist der digitale Wandel. Mit diesem Megatrend verbunden ist das wichtige Thema des Cloud-Computing. Nicht nur ist die Cloud-Technologie eine Notwendigkeit für Unternehmen, um in der heutigen Wirtschaft bestehen und wettbewerbsfähig bleiben zu können. Vielmehr trägt sie auch wesentlich zum weltweiten Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum bei. In den letzten 18 Monaten ist die gesamte Marktkapitalisierung der börsennotierten Cloud-Unternehmen um USD 1,3 Bio. auf insgesamt USD 2,3 Bio. gestiegen5, was das starke Wachstum dieses Sektors noch einmal verdeutlicht.
Untrennbar mit der Digitalisierung verbunden ist auch das Thema der Cybersicherheit. Dem Cybersicherheitsunternehmen Mandiant zufolge ist jedes zehnte Unternehmen zur Aufgabe der Geschäftstätigkeit gezwungen, sobald es Opfer eines Ransomware-Angriffs wird6. Da der Kundenkontakt zunehmend online stattfindet, wollen Unternehmen natürlich das Risiko eines Cyberangriffs möglichst vollständig ausschließen.
Wir könnten diesen Beitrag noch um viele weitere Beispiele ergänzen. Die oben genannten verdeutlichen lediglich, dass die Anleger aus unserer Sicht bei der Suche nach langfristigen Wachstumschancen vermutlich immer anspruchsvoller werden. Langfristig bedeutsame Themen werden in den kommenden Monaten (und Jahren) wohl auf der Agenda bleiben.#
Fazit
Ausgehend von den hier dargestellten Themen sind für Investoren drei unterschiedliche Dimensionen der Aktienanlage erkennbar: ein für alle Fälle gewappnetes Kernportfolio, das die Auswirkungen drohender Volatilität abmildern kann, eine geografische Diversifizierung, um von den globalen zyklischen Wachstumschancen zu profitieren, und thematisches Investieren für langfristiges Wachstum. Die Diversifizierung trägt auch dazu bei, eine gewisse Sorglosigkeit zu vermeiden, die sich angesichts der starken Aktienrallye seit dem 2. Quartal 2021 nur allzu leicht einschleichen kann.
Dieser Blogbeitrag wurde in Zusammenarbeit mit Aneeka Gupta verfasst.
Quelle
1 Factset, WisdomTree (Stand: 4. September 2021)
2 Bloomberg, WisdomTree (Stand: 4. September 2021)
3 Pharmaceutical Technology
4 Bloomberg, WisdomTree (Stand: 31. August 2021)
5 Bessemer Venture Partners, August 2021
6 FireEye 2021, Unternehmenspräsentation
Zudem könnte Sie folgende Lektüre interessieren...
+ WisdomTree-Ausblick Rohstoffe - Die Renaissance der Rohstoffe