Höhere Zinsen? Urteilen Sie nicht zu schnell!
2019 mussten wir uns immer wieder mit dem veränderten Ausblick für die Zinsen in der Eurozone, d. h. niedrigere Zinsen über einen längeren Zeitraum, befassen. Meinen ersten Blog-Beitrag über dieses Thema schrieb ich Anfang Dezember des vergangenen Jahres. Da wir uns nun bereits mitten im zweiten Quartal 2019 befinden, hielt ich es für eine gute Idee, das Thema erneut aufzugreifen. Hat sich meine Meinung geändert? Mit einem Wort: Nein. Ich werde nicht so schnell zu den Marktbeobachtern zählen, die höhere Zinsen erwarten.
Es stimmt zwar, dass sich die Märkte und die Europäische Zentralbank (EZB) im Laufe des bisherigen Jahres scheinbar in dieses Terrain bewegt haben. EZB-Präsident Mario Draghi wiederholte nach der geldpolitischen Sitzung vom 10. April erneut, dass die Risiken für den Ausblick in der Eurozone nach wie vor eine Abwärtstendenz aufweisen. Er schien bei Bedarf offen für die Möglichkeit zusätzlicher Anreizmaßnahmen zu sein. Das Problem besteht darin, dass die EZB in dieser Hinsicht möglicherweise über begrenzten Spielraum verfügt. Das TLTRO-III-Programm ist der erste Schritt in Richtung Anreize. Man kann aber sicher darüber diskutieren, dass Draghi & Co. danach nicht mehr viele Möglichkeiten übrig bleiben, besonders weil die Zinsen bereits bei null oder im negativen Bereich liegen. Selbstverständlich könnten sie das quantitative Lockerungsprogramm hochfahren, aber möchte die EZB den Kurs wirklich so schnell ändern, nachdem sie vor Kurzem das Ende neuer Anlagekäufe verkündete? Das einzige Instrument, das ihr zur Verfügung steht, sind die Hinweise auf die künftige Zinspolitik. Wenn die Wirtschaftsdaten in den kommenden Monaten weiter enttäuschen und kaum Verbesserung zeigen, ist es wahrscheinlich, dass die EZB ihre Hinweise auf die künftige Zinspolitik ändern und nicht mehr von einer Beibehaltung der Zinsen bis „mindestens Ende 2019“, sondern vielleicht bis „mindestens Mitte 2020“ sprechen wird.
Abbildung 1: Implizite Wahrscheinlichkeiten für Zinsmaßnahmen 2019 – Europäische Zentralbank
Quelle: Bloomberg. Stand: 23. April 2019. Prognosen sind kein Maßstab für zukünftige Ergebnisse, und Anlagen jeglicher Art unterliegen Risiken und Unsicherheiten.
Sie können nicht direkt in einen Index investieren.
Mitte Dezember vor der letzten Zinsanhebung der US-amerikanischen Federal Reserve wurde die implizite Wahrscheinlichkeit für eine Zinsanhebung der EZB auf 44,5 % eingeschätzt. Die Wahrscheinlichkeit für eine Zinssenkung belief sich auf nur 6,4 %. Ende April sehen die Wahrscheinlichkeiten völlig anders aus: 4,0 % für eine Zinsanhebung und fast 20,0 % für eine Zinssenkung.
Wie hat sich diese Änderung der geldpolitischen Haltung auf die Anleiherenditen ausgewirkt? Sehen wir uns das Diagramm zu den Renditen zehnjähriger deutscher Bundesanleihen an. Die Renditen der Bundesanleihen bewegten sich zum ersten Mal seit 2016 erneut in negatives Terrain und befinden sich derzeit nach wie vor an der „Nullschwelle“. Die Trendlinie für den zweijährigen Zeithorizont zeigt nun deutlich nach unten.
Abbildung 2: Renditen zehnjähriger deutscher Bundesanleihen
Quelle: Bloomberg. Stand: 24. April 2019. Die Wertentwicklung in der Vergangenheit ist kein Maßstab für zukünftige Ergebnisse und der Wert von Anlagen kann fallen.
Sie können nicht direkt in einen Index investieren.
Aus konjunktureller Sicht gibt es scheinbar nichts, das ein höheres Zinsumfeld notwendig machen würde. Die Inflation liegt weiterhin unter dem Zielwert und der jüngste Einkaufsmanagerindex (EMI) befand sich nach wie vor nur knapp über 50,0, der Schwelle zwischen Expansion und Kontraktion. Die Fertigung belastet die gesamte Wirtschaftsaktivität und fiel deutlich unter den Wert von 50,0. Deutschland befindet sich im vierten Monat in Folge im Kontraktionsbereich.
Vor diesem Hintergrund sollten Anleger weiterhin Enhanced-Yield-Strategien für ihre Kernanleiheportfolios in Erwägung ziehen, während sie bekannte Risikoprofile aufrechterhalten. Anleger sollten auch darauf achten, dass sie sich in Bezug auf die Duration nicht zu weit hinauslehnen. Die aktuelle Form der Renditekurve weist aber darauf hin, dass eine Verlängerung innerhalb bestimmter Grenzen in Betracht gezogen werden könnte. Im Gegensatz zu anderen inversen/negativen Verhältnissen am Markt der US-Staatsanleihen bleibt der Spread zwischen den Renditen zwei- und zehnjähriger deutscher Bundesanleihen deutlich im positiven Bereich.
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